Neuer Lancet Countdown Policy Brief für Deutschland zeigt weiter erheblichen Handlungsbedarf
Deutschland ist nur unzureichend für die gesundheitlichen Herausforderungen des Klimawandels gerüstet. Trotz eines wachsenden Bewusstseins der politisch Verantwortlichen für den Ernst der Lage stehen konkrete Maßnahmen zur Vermeidung klimabedingter Gesundheitsrisiken und zur Bekämpfung des Klimawandels aus. Nur wenige Kommunen haben bisher Hitzeaktionspläne umgesetzt und auch die hohen CO2-Emissionen des Gesundheitssystems wurden in den vergangenen Jahren nur unwesentlich reduziert.
Das sind zentrale Ergebnisse eines Reviews, anlässlich der Vorstellung des internationalen Lancet Countdown. Der jährliche Bericht zu Klima und Gesundheit wird von weltweit 38 führenden akademischen Institutionen und UN-Organisationen erstellt und von der Fachzeitschrift „The Lancet“ herausgegeben. Expert:innen von Helmholtz Zentrum München, Bundesärztekammer, Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung erstellen seit 2019 jährlich einen flankierenden Situationsbericht zu Deutschland und sprechen politische Empfehlungen aus. Im Jahr 2021 überprüften sie, inwieweit Politik und Gesellschaft ihre Empfehlungen aus dem Jahr 2019 aufgegriffen haben. Das zentrale Ergebnis: Das Bewusstsein für den Ernst der Lage wächst bei den Entscheidungsträger:innen. Die notwendigen Handlungen bleiben hingegen meist aus.
Folgende Empfehlungen wurden 2019 formuliert: die systematische und flächendeckende Umsetzung von Hitzeschutzplänen zur Reduktion von hitzebedingten Gesundheitsrisiken, die Reduktion des CO2-Fußabdrucks des deutschen Gesundheitssektors und die Integration von Klimawandel und Gesundheit / Planetary Health in Aus-, Fort - und Weiterbildung von Gesundheitsberufen.
Zu bisherigen Fortschritten auf diesen Gebieten befragt wurden Mitarbeitende des Bundesgesundheitsministeriums, der Gesundheitsämter, des Spitzenverbands der Kommunen, Mitarbeitende von Krankenhäusern, Krankenkassen, Wohlfahrtsverbänden und Nichtregierungsorganisationen sowie Hausärzt:innen, Expert:innen auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes, des Medizinrechts, der Lehre, der Pflege- und Gesundheitswissenschaften und der Physiotherapie und Psychologie.
„Es reicht nicht, wenn Einzelne ihr Verhalten ändern. Wir müssen auch die Verhältnisse ändern. Das ist bisher leider an viel zu wenigen Stellen passiert“, so Sabine Gabrysch, Professorin für Klimawandel und Gesundheit an der Charité und Leiterin der Forschungsabteilung Klimaresilienz am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. „Wir brauchen dazu klare Verantwortlichkeiten auf allen Ebenen im Gesundheitssektor und in der Politik. Klimaschutz und Klimaanpassung müssen zur Priorität werden, weil es dabei um unsere Lebensgrundlagen und unsere Gesundheit geht.“
„Eine der vordringlichsten Aufgaben der neuen Bundesregierung muss deshalb sein, gemeinsam mit Ländern und Kommunen die Verantwortlichkeiten zur Vorbeugung klimabedingter Gesundheitsgefahren zu definieren und bestehende gesetzliche Vorgaben zu evaluieren“, sagt Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer. Gesundheitseinrichtungen müssten durch ausreichend Personal und räumliche Ressourcen auf Extremwetterereignisse vorbereitet werden. „Notwendig ist außerdem eine nationale Strategie für eine klimafreundliche Gesundheitsversorgung in Deutschland, die auch den notwendigen Investitionsbedarf zum Beispiel für den klimaneutralen Bau bzw. Umbau von Gesundheitseinrichtungen vorsieht.“
Kritisiert wird in dem Review, dass nur wenige Kommunen bisher über umfassende Hitzeaktionspläne verfügen oder aber, dass sie existierende nicht umgesetzt haben. Wichtige Akteure des Gesundheitssystems wurden bisher kaum eingebunden. Anstrengungen, den CO2-Fußabdruck des Gesundheitswesens zu senken (ca. 5 % der deutschen Gesamtemissionen) wurden in den vergangenen zwei Jahren kaum unternommen.
In der Aus- und Fortbildung von Gesundheitsberufen wurden Prozesse eingeleitet, um Klimawandel und Gesundheit bzw. Planetary Health in die Curricula zu integrieren – diese stehen aber noch am Anfang.
Am Beispiel des Hitzeschutzes erläutert Alexandra Schneider vom Institut für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum München: „Aktuelle Analysen zeigen, dass die Gesundheitsgefährdung durch Hitze in Deutschland weiter zugenommen hat. Die Anzahl heißer Tage nimmt immer weiter zu und besonders sensible Bevölkerungsgruppen wie ältere Menschen mit Vorerkrankungen wie Diabetes oder Herzinsuffizienz sind heute stärker gefährdet als noch vor 10 Jahren.“ Doch obwohl die zuständigen Behörden und eingebundenen Akteure realisierten, wie dringend Hitzeschutz ist, sind die Zuständigkeiten unklar. Prof. Dr. Annette Peters, Direktorin des Instituts für Epidemiologie des Helmholtz Zentrum München: „Für solche extremen und komplexen Situationen, wie sie im Sommer 2021 in Südeuropa und Kanada aufgetreten sind, ist die Bundesrepublik momentan nicht ausreichend gerüstet. Der Aufbau einer langfristigen Hitzeresilienz in Städten, Kommunen und Gesundheitseinrichtungen startet momentan sehr langsam.“
Mit der Fortschrittskontrolle empfehlen die Autor:innen deshalb neue gesetzliche Regelungen und eine Klärung der Zuständigkeiten, die Einbeziehung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und des Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes sowie Handlungsszenarien für unerwartete Extremlagen wie im Sommer 2021 in Kanada. Hitzeopfer durch Tod oder Krankheit müssten systematisch erfasst werden. Bilanziert werden sollten auch die Treibhausgas-Emissionen des Gesundheitswesens. „Weder auf der Landes-, Bundes- oder der europäischen Ebene gab es bislang Gesetzesvorschläge mit dem Ziel, eine Reduktion des CO2-Fußabdrucks im Gesundheitssektor zu erreichen“, sagt Dr. Martin Herrmann, Vorsitzender der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG).
Der vorliegende Policy Brief 2021 kann der neuen Bundesregierung als Grundlage für evidenzbasierte Entscheidungen zur Umsetzung von Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen dienen.
Den globalen Lancet Coutdown Bericht 2021 können Sie hier abrufen: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)01787-6/fulltext