Letzte Aktualisierung: September 2022.
Organersatz aus dem Labor Organ-on-Chip: Mikroorgane für die personalisierte Zelltherapie
Sie passen in eine Handfläche – winzige Mini-Labore, mit denen Forschende von Helmholtz Munich die Medizin von morgen gestalten wollen. “Organ-on-Chip ” ist das Schlüsselwort. Der Ansatz kombiniert Ingenieurswissenschaften und biologische Ansätze und erleichtert nicht nur die Erforschung von Krankheiten und die Entwicklung personalisierter Therapien, sondern könnte zukünftig auch Tierversuche ersetzen.
Vier mal fünf Zentimeter klein ist der Chip, auf dem Matthias Meier und sein Team am Helmholtz Pioneer Campus menschliche Stammzellen anzüchten und zu funktionierenden, gewebeähnlichen Zellstrukturen- sogenannten Organoiden - heranziehen. Ihr langfristiges Ziel: Personalisierte Zelltherapien für Menschen mit Adipositas oder Diabetes.
Mikroorgane auf Chips
„Organ-on-Chip“ verbindet Mikrofluidik und Stammzelltechnologien auf einer Plattform. Was das im Detail bedeutet? Hauchdünne Flüssigkeitskanäle versorgen winzige Zellkulturkammern mit Nährstoffen und verschiedensten Signalstoffen. In den Kammern sitzen menschliche pluripotente Stammzellen. Diese können sich in alle Zellen des menschlichen Körpers verwandeln – je nachdem mit welchen Signalstoffen sie in Kontakt kommen.
„Mit der Organ-on-Chip-Technik erreichen wir einen bisher noch nie dagewesenen Einblick in unsere eigene Physiologie. Von der Stammzelle bis zum Organ können wir die Bedingungen klar definieren und damit zum ersten Mal alle beteiligten Moleküle quantitativ erfassen beziehungsweise bisher noch nicht beschriebene Vorgänge und Moleküle charakterisieren.“
- Matthias Meier
Zellen aus dem Mini-Labor
Und wofür nutzt man die Organ-on-Chip-Technologie genau? Das Spektrum möglicher Anwendungen der Mikroorgane ist enorm. Angefangen mit der
- Grundlagenforschung und
- der Differenzierung patienteneigener Stammzellen zur Zellersatztherapie,
- bis hin zum Einsatz in der Arzneimittelentwicklung oder
- der Toxikologie
um Wirkstoffe zu testen oder herauszufinden, ob Stoffe potentiell giftig für menschliche Zellen sind.
Denkbar ist aber auch, in dem Mini-Labor spezielle Zellen aus patienteneigenen Stammzellen neu heran zu züchten, die bei Krankheiten zerstört werden, und diese anschließend im Zuge einer personalisierten Zellersatztherapie für die Behandlung einzusetzen.
An genau solch einem Beispiel arbeitet Meiers Team zusammen mit Heiko Lickert, Direktor des Instituts für Diabetes und Regenerationsforschung (IDR) von Helmholtz Munich. Zusammen haben sie einen Bauchspeicheldrüsen-Chip entwickelt – den PancChip – abgeleitet von Pankreas – dem medizinischen Begriff für die Bauchspeicheldrüse. Auf dem Chip wollen sie die Entwicklung von insulinproduzierenden Zellen so gut wie möglich simulieren, um langfristig aus patienteneigenen Stammzellen insulinproduzierende Betazellen für eine Zellersatztherapie bei Diabetes Typ-1 zu züchten.
Neu gegen alt: Zelltransplantation bei Diabetes Typ-1
Pankreas, Betazellen, Zellersatztherapie?! Gehen wir zunächst einen Schritt zurück:
Diabetes mellitus – eine Volkskrankheit von der wahrscheinlich jede und jeder schon einmal gehört hat. Manchmal spricht man umgangssprachlich auch von der „Zuckerkrankheit“, denn bei Diabetes sind die Blutzuckerwerte krankhaft erhöht.
Diabetes ist aber nicht nur eine Krankheit, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene Störungen des Stoffwechsels. Eine davon ist Diabetes Typ-1, sie zählt zu den Autoimmunerkrankungen – denn das eigene Immunsystem greift fälschlicherweise körpereigenen Zellen an und zerstört sie. Bei Diabetes Typ-1 sind das die insulinproduzierenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse.
Insulin spielt eine wichtige Rolle im Zuckerstoffwechsel. Ohne das Hormon kann der Zucker aus dem Blut nicht in die Körperzellen aufgenommen werden, der Blutzuckerspiegel steigt. Zerstört das Immunsystem bei Diabetes Typ-1 nach und nach immer mehr Betazellen, wird immer weniger Insulin ins Blut abgegeben, bis die Insulinproduktion ganz versiegt. Heilen kann man Diabetes Typ-1 bislang nicht. Patient:innen müssen Insulin lebenslang durch Spritzen oder Insulinpumpen zuführen.
Die Zellersatztherapie – also das Ersetzen der zerstörten Betazellen, durch neue funktionsfähige Zellen – ist daher schon seit geraumer Zeit ein Fokus der Diabetes-Forschung. Erste Ansätze für eine Transplantation von gesunden Betazellen gibt es bereits, jedoch werden dafür meist Zellen von verstorbenen Organspender:innen genutzt. Der Nachteil: Organspenden sind Mangelware und die fremden Zellen werden vom Immunsystem der Empfänger:innen oft wieder abgestoßen.
Der neue PancChip von Meier und Lickert könnte dieses Problem zukünftig lösen und damit neue Behandlungsmöglichkeiten schaffen.
PancChip: Die künstliche Bauchspeicheldrüse
Als Ausgangsmaterial nutzen die Forschenden induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen). Diese entstehen, aus eigentlich bereits entwickelte Körperzellen, die im Labor künstlich in den Zustand von Stammzellen zurückversetzt werden – man spricht hier auch von Reprogrammierung. Wie echte Stammzellen können sich auch iPS-Zellen praktisch unbegrenzt vermehrt und in eine Vielzahl von Zelltypen differenziert werden. Und da sie von patienteneigenen Zellen abstammen, verringert sich auch das Risiko der Abstoßung, da der Körper der Patient:innen die eigenen Zellen nicht als „fremd“ erkennt.
„Mit einer Zellersatztherapie haben wir eine reelle Chance auf Heilung von Diabetes Typ-1, anstatt wie bisher nur Symptome zu behandeln.“
- Heiko Lickert
Auf dem PancChip werden die iPS-Zellen in hunderten kleinen Zellkulturkammern zu insulinproduzierenden Zellen herangezüchtet. Gleichzeitig unterstützt das System auch eine Qualitätskontrolle, denn die Forschenden konnten im Rahmen ihres Projektes auch einen Zellmarker identifizieren, der schon zu Beginn der Zellentwicklung anzeigt, welche Zellen sich zu besonders leistungsfähigen Betazellen verwandeln werden und welche nicht. Störende Zelltypen können so früh aussortiert werden, wodurch die Ausbeute an guten funktionierenden Betazellen steigt.
Bildergallerie
Bevor der PancChip zur Behandlung von Menschen mit Diabetes Typ-1 eingesetzt werden kann, stellen sich den Forschenden allerdings noch einige Herausforderungen: Die Produktion muss erhöht werden, sodass die neuen Betazellen in ausreichender Menge produziert werden können und auch die Methode, die neu gezüchteten Zellen zu transplantieren, muss noch optimiert werden. Daran arbeiten Matthias Meier, Heiko Lickert und ihre Teams mit Hochdruck, um hoffentlich bald eine personalisierte Therapie bei Diabetes Typ-1- zu ermöglichen.
Tierversuchsfreie Forschung für die Medizin von morgen
Zahlreiche weitere Einsatzmöglichkeiten der Organ-on-Chip-Technologie stehen im Fokus weiterer Forschung, denn diese gehen weit über den Gewinn von neuen Betazellen hinaus. Mit Hilfe der Organoide auf dem PancChip können die Forschungsteams auch ganz generell die Entstehungsmechanismen von Diabetes mellitus oder anderer Krankheiten der Bauchspeicheldrüse, wie zum Beispiel Pankreaskrebs untersuchen – und das ganz ohne den Einsatz von Tierversuchen.
Näher an den realen Patient:innen und zu geringeren Forschungskosten, so wollen unsere Forschenden bei Helmholtz Munich mit modernsten Technologien alt hergebrachte Grenzen in der Wissenschaft überwinden und die Medizin von morgen gestalten.