Abschätzung des genetischen Risikos für Typ-1-Diabetes verbessert
Eine internationale Forschergruppe unter Leitung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Helmholtz Munich hat ein Verfahren zur Risikoberechnung für Typ-1-Diabetes entwickelt, das älteren Methoden deutlich überlegen ist. Durch die Analyse von bis zu 41 Genregionen lassen sich ab der Geburt Kinder identifizieren, die ein mindestens 25-fach erhöhtes Risiko besitzen, Typ-1-Diabetes zu entwickeln. Der Test kommt bereits in einem europaweiten Präventionsprojekt zu Typ-1-Diabetes zum Einsatz. Die Arbeit in ‚PLOS Medicine‘ könnte auch als Modell für andere Krankheiten dienen, an deren Entstehung ebenfalls eine Vielzahl von Genen beteiligt sind.
Typ-1-Diabetes, die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindes- und Jugendalter, entwickelt sich schleichend. Lange bevor Symptome auftreten, beginnt das Immunsystem in einer fehlgeleiteten Reaktion, insulinproduzierende Zellen in der Bauchspeicheldrüse zu zerstören. Um diesen Prozess möglicherweise zu verhindern, ist eine frühe und zuverlässige Abschätzung des Krankheitsrisikos nötig. Bisher untersuchten Wissenschaftler dafür zum Beispiel zwei Gene im sogenannten HLA-System (Humanes Leukozyten-Antigen), einer Gruppe von Genen, die zentral für die Funktion des Immunsystems sind, oder sie suchten nach weiteren Typ-1-Diabetes-Fällen in der Familie. Beide Methoden sind jedoch unzureichend: 90 Prozent aller erkrankten Kinder haben keinen Verwandten ersten Grades mit Typ-1-Diabetes. Die Analyse der beiden HLA-Genotypen kann bestenfalls Kinder identifizieren, die ein Krankheitsrisiko von fünf Prozent besitzen. Zum Vergleich: Das Risiko für den breiten Bevölkerungsdurchschnitt beträgt 0,4 Prozent.
Ein Forscherteam um Prof. Dr. Ezio Bonifacio vom DFG-Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden, Dr. Andreas Beyerlein und Prof. Dr. Anette-Gabriele Ziegler (beide Helmholtz Munich sowie Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München und Forschergruppe Diabetes e.V.) überprüfte zusammen mit Kollegen aus Großbritannien, Schweden, Finnland, Kanada und den USA Risikoscores, die bis zu 41 Typ-1-Diabetes-Risikogenregionen einbeziehen, in einer prospektiven Studie. Sie nutzten dazu Daten von über 3.000 Kindern, die an der TEDDY-Studie* teilnehmen und die keine Verwandten mit Typ-1-Diabetes haben. „Mit den Risikoscores finden wir Kinder, deren Risiko, bis zum sechsten Geburtstag ein frühes Stadium des Typ-1-Diabetes zu entwickeln, mehr als zehn Prozent beträgt“, erklärt Ezio Bonifacio. „Im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt bedeutet das ein mindestens 25-fach erhöhtes Risiko. Das Verfahren ist den bisherigen Methoden damit deutlich überlegen.“
Der Test wird bereits in einem großen klinischen Studienprojekt zur Prävention von Typ-1-Diabetes angewendet. Im Rahmen der Freder1k-Studie können Eltern in Bayern, Niedersachsen und Sachsen ihr Baby in der Geburtsklinik oder bei einem der ersten Kinderarzt-Besuche kostenlos auf das Typ-1-Diabetes-Risiko untersuchen lassen. Krankenhäuser und Forschungsinstitute in Schweden, Großbritannien, Polen und Belgien nehmen ebenfalls teil. Insgesamt wollen die Wissenschaftler in den kommenden Jahren über 300.000 Babys testen. Kinder, bei denen ein erhöhtes Risiko festgestellt wird, können an einer Studie teilnehmen, die der Entstehung von Typ-1-Diabetes vorbeugen soll. „Nur durch die verbesserte Analysemethode war es möglich, ein so großes Präventionsprojekt zu starten“, sagt Anette-Gabriele Ziegler. „Wir hoffen, dass sich dieses Modell in Zukunft auch auf andere Autoimmunkrankheiten bei Kindern übertragen lässt.“
Weitere Informationen
*TEDDY (The Environmental Determinants of Diabetes in the Young) erforscht Einflussfaktoren auf die Entstehung von Typ-1-Diabetes. In insgesamt sechs Zentren in den USA, Finnland, Schweden und Deutschland verfolgen Wissenschaftler dazu über 8000 Kinder mit Typ-1-Diabetes-Risikogenen von der Geburt bis zum 15. Lebensjahr. Die US-amerikanischen Gesundheitsbehörden National Institutes of Health und Centers of Disease Control and Prevention sowie die Juvenile Diabetes Research Foundation finanzieren das Projekt.
Original-Publikation:
Bonifacio E. et al. (2018): Genetic scores to stratify risk of developing multiple islet autoantibodies and type 1 diabetes: A prospective study in children. PLoS Medicine, DOI: 10.1371/journal.pmed.1002548
Das Helmholtz Munichverfolgt als Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt das Ziel, personalisierte Medizin für die Diagnose, Therapie und Prävention weit verbreiteter Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus, Allergien und Lungenerkrankungen zu entwickeln. Dafür untersucht es das Zusammenwirken von Genetik, Umweltfaktoren und Lebensstil. Der Hauptsitz des Zentrums liegt in Neuherberg im Norden Münchens. Das Helmholtz Munich beschäftigt rund 2.500 Mitarbeiter und ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft, der 19 naturwissenschaftlich-technische und medizinisch-biologische Forschungszentren mit rund 37.000 Beschäftigten angehören.
Das Institut für Diabetesforschung (IDF) befasst sich mit der Entstehung und Prävention von Typ-1-Diabetes. Ein vorrangiges Projekt des Instituts ist die Entwicklung einer antigen-basierten Therapie zur Erzeugung einer Immuntoleranz. In groß angelegten Langzeitstudien untersucht das IDF den Zusammenhang von Genen, Umweltfaktoren und Immunsystem für die Pathogenese von Typ-1-Diabetes. Mit den Daten der Geburtskohorte BABYDIAB, die 1989 als weltweit erste prospektive Diabetes-Geburtskohorte etabliert wurde, konnte die Anfälligkeit für die Entstehung einer mit Typ-1-Diabetes assoziierten Autoimmunität in den ersten zwei Lebensjahren aufgedeckt werden. Das im Jahr 2015 vom IDF initiierte Pilotprojekt Fr1da war weltweit das erste bevölkerungsweite Screening auf Inselautoimmunität in der Kindheit, die als Frühstadium des Typ-1-Diabetes zu werten ist. Das IDF ist Teil des Helmholtz Diabetes Center (HDC).
Am 2006 gegründeten Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) der Technischen Universität Dresden wird das Selbstheilungspotential des menschlichen Körpers erforscht, um völlig neuartige, regenerative Therapien für bisher unheilbare Krankheiten zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte des Zentrums konzentrieren sich auf Hämatologie und Immunologie, Diabetes, neurodegenerative Erkrankungen sowie Knochenregeneration. Das CRTD ist Teil des Center for Molecular and Cellular Bioengineering (CMCB).
Das Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München widmet sich mit rund 5.500 Mitarbeitern der Krankenversorgung, der Forschung und der Lehre. Jährlich profitieren rund 60.000 Patienten von der stationären und rund 250.000 Patienten von der ambulanten Betreuung auf höchstem medizinischem Niveau. Das Klinikum ist ein Haus der Supra-Maximalversorgung, das das gesamte Spektrum moderner Medizin abdeckt. Durch die enge Kooperation von Krankenversorgung und Forschung kommen neue Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien frühzeitig dem Patienten zugute. Seit 2003 ist das Klinikum rechts der Isar eine Anstalt des öffentlichen Rechts des Freistaats Bayern.