Geschlechtsspezifische Forschung Auf der Suche nach der besten Medizin
Von Hormonen bis zur personalisierten Medizin – wie Forschende bei Helmholtz Munich die molekularen Unterschiede von Frauen und Männern entschlüsseln und damit den Grundstein für innovative Therapien legen.
Von Hormonen bis zur personalisierten Medizin – wie Forschende bei Helmholtz Munich die molekularen Unterschiede von Frauen und Männern entschlüsseln und damit den Grundstein für innovative Therapien legen.
Am Anfang ist es Zufall: Ein Chromosom entscheidet darüber, ob ein Mensch biologisch gesehen als Mann oder Frau zur Welt kommt. Später im Leben kann dieser Zufall überlebenswichtig sein. Viele Krankheiten zeigen geschlechtsspezifische Symptome. Frauen mit Diabetes haben beispielweise ein höheres Herzinfarktrisiko als Männer. Helmholtz Munich Wissenschaftler:innen forschen an den molekularen Mechanismen, die zu geschlechtsspezifischen Unterschieden führen, um die Lebenserwartung aller zu verbessern.
Viele Medikamente kennen keinen Geschlechterunterschied
In der Welt der Medizin gibt es Fälle, in denen das biologische Geschlecht bei der Einnahme eines Medikaments keine Rolle spielt. Bei anderen Arzneimitteln hingegen zeigen sich erhebliche Unterschiede in der Intensität und Dauer der Wirksamkeit zwischen Männern und Frauen. Dies führt dazu, dass Packungsbeilagen eigentlich klare Dosierungsempfehlungen für beide Geschlechter enthalten müssten. Doch häufig fehlen den Herstellern von Medikamenten die notwendigen geschlechtsspezifischen Daten, um präzise Empfehlungen abzugeben. Es ist längst bekannt, dass Arzneimittel und Therapien unzureichend an Frauen getestet werden. Die vorliegenden Daten stammen in vielen Fällen zu einem erheblichen Prozentsatz, manchmal sogar vollständig, von männlichen Probanden. Eine dringende Notwendigkeit besteht, diese Lücke zu schließen und eine gerechtere, geschlechtsspezifische Forschung und Entwicklung von Medikamenten voranzutreiben.
Die Forschung hat längst erkannt, dass der Unterschied zwischen Frauen und Männern nicht allein durch ein Chromosom definiert wird. „Neben der individuellen genetischen Veranlagung und den Einflüssen des Lebens, die beide eine entscheidende Rolle im Krankheitspotenzial spielen, funktionieren die Körper von Männern und Frauen auf unterschiedliche Weise. Es gibt Gründe dafür, dass Männer eher Körperfett im Bauchbereich ansammeln, während Frauen es eher an Hüften und Oberschenkeln lagern. Auch das Schmerzempfinden und die Symptome bei einem Herzinfarkt weisen geschlechtsspezifische Unterschiede auf. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Gründe auf molekularer Ebene besser zu verstehen. Nur durch dieses tiefgreifende Verständnis können wir unsere Erkenntnisse direkt in die Entwicklung fortschrittlicher, personalisierter Medizin integrieren“, betont Susanna Hofmann.
Stoffwechsel, Immunsystem und Sport – eine Frage des Geschlechts
Susanna Hofmann ist Expertin für die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Stoffwechsel und Immunsystem und beschäftigt sich intensiv mit damit verbundenen Erkrankungen wie Adipositas und Diabetes. In ihrer Forschung legt sie besonderen Fokus auf die therapeutische Bedeutung von Lebensstilveränderungen durch Sport. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit bekleidet sie das Amt als stellvertretendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V.
In diesem Video erforscht Susanna Hofmann den Einfluss des Geschlechts auf Stoffwechselerkrankungen, das Immunsystem, den Gewichtsverlust durch Bewegung und gibt Einblicke in die personalisierte Medizin.
Frauen und Männer reagieren unterschiedlich auf Insulin
Dass Frauen anders auf Hormone reagieren als Männer, zeigen die Studienergebnisse von Martin Heni und seiner Forschungsgruppe. Die Wissenschafler:innen vom Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen haben herausgefunden, dass der Menstruationszyklus die Reaktion des Gehirns auf das Bauchspeicheldrüsenhormon Insulin stark beeinflusst. Eine kleine Gruppe von elf Frauen bekam in ihrer Studie vor und nach dem Eisprung Nasenspray mit Insulin verabreicht. Was die Forschenden interessierte: Wie reagieren die Studienteilnehmerinnen auf das Insulin – im Vergleich zu einem Placebo-Nasenspray und im Verlauf ihres Menstruationszyklus? Tatsächlich beobachtete Martin Heni zwischen den Zyklusphasen große Unterschiede in der Insulin-Sensitivität: Vor dem Eisprung war diese deutlich höher als nach dem Einsprung. Für Frauen mit Diabetes sind diese Erkenntnisse enorm wichtig.
Die Insulinempfindlichkeit bezieht sich auf die Reaktionsfähigkeit des Körpers auf Insulin – ein Hormon aus der Bauchspeicheldrüse, das den Blutzuckerspiegel reguliert. Eine hohe Insulinsensitivität bedeutet, dass die Zellen effizient auf Insulin reagieren und Glukose aus dem Blut aufnehmen. Eine niedrige Insulinsensitivität, auch Insulinresistenz genannt, beschreibt dagegen eine verminderte Reaktionsfähigkeit der Zellen, was zu einem erhöhten Blutzuckerspiegel und möglichen Gesundheitsproblemen wie Typ-2-Diabetes führt.
Die Ergebnisse bestätigen sie mithilfe von Magnetresonanztomographie (MRT). Denn auch Gehirn-Scans weiterer Studienteilnehmerinnen zeigten in der ersten Hälfte des Zyklus (Follikelphase) eine höhere Sensitivität auf Insulin im Hypothalamus im Vergleich zur zweiten Zyklushälfte (Lutealphase). In der medizinischen Praxis passen viele Frauen mit Typ-1-Diabetes, die Insulin spritzen müssen, ihre Dosis an die Phase ihres Zyklus an. Denn ihre Blutzuckerwerte schwanken während des weiblichen Menstruationszyklus stark. Die Studie von Martin Heni und seinen Kolleg:innen zeigt nun erstmals eine mögliche Ursache hierfür auf: die variierende Insulin-Sensitivität im Gehirn.
Auch Sexualhormone beeinflussen den Stoffwechsel
Nicht nur Insulin spielt für die Entstehung von Stoffwechselkrankheiten eine zentrale Rolle. Bis zur Menopause neigen Frauen weniger dazu metabolische Erkrankungen zu entwickeln als Männer, was auf eine schützende Rolle der Sexualhormone hindeutet. Doch wie genau geschlechtsspezifische Hormone den Stoffwechsel beeinflussen, ist noch nicht vollständig erforscht. Studien am Mausmodell deuten darauf hin, dass weibliche Mäuse einer bestimmten genetischen Linie (C57BL/6) im fortpflanzungsfähigen Alter besser vor Adipositas geschützt sind als männliche Mäuse. Cristina García-Cáceres und ihre Forschungsgruppe am Institut für Diabetes und Adipositas sind dem in einer Studie näher auf den Grund gegangen.
Östradiol ist das wichtigste Hormon im weiblichen Körper, es gehört zu den Östrogenen. Im Mausmodell konnten Forschende feststellen, dass Östradiol den Energieaushalt reguliert, indem es beispielsweise Sättigungssignale sendet. Probleme bei der Energiebalance sind ein Hauptgrund für Adipositas.
Weibliche Mäuse zeigten in ihrer Studie ein höheres Risiko für Adipositas, wenn ihnen das Protein Cited1 fehlte. Die Abwesenheit von Cited1 im Hypothalamus der weiblichen Mäuse sorgte dafür, dass diese nicht mehr so stark auf das Sättigungshormon Leptin reagieren konnten wie zuvor. Ihre Leptin-Sensitivität sank auf das Niveau männlicher Mäuse. Cristina García-Cáceres erklärt: „Forschungsergebnisse wie diese helfen uns, geschlechtsspezifische Unterschiede bei Adipositas besser zu verstehen. Damit legen wir einen Grundstein für neue Medikamente, die starkes Übergewicht individueller und mit weniger Nebenwirkungen behandeln können.“
Frühe Gehirnentwicklung zeigt geschlechtsspezifische Unterschiede
Einige Wissenschaftler:innen bei Helmholtz Munich erforschen die geschlechtsspezifischen Unterschiede schon vor der Geburt. Prof. Hubert Preissl und sein Team haben sich auf die Erforschung der pränatalen und neugeborenen Gehirnentwicklung spezialisiert. Mit seiner Expertise in der metabolischen Neurobildgebung nutzt Preissl ein nicht-invasives und hochempfindliches fetales Magnetoenzephalographie-Gerät (fMEG), um die neuronale Aktivität von Föten und Neugeborenen zu überwachen. Weltweit sind lediglich zwei fMEG-Geräte in Betrieb. In einer kürzlich vom Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen durchgeführten Studie wollten die Forschenden herausfinden, wie sich die Hirnaktivität vor und nach der Geburt entwickelt, insbesondere im Hinblick auf Geschlechtsunterschiede. Ursprünglich gingen sie davon aus, dass die Komplexität des Gehirns mit dem Fortschreiten der Schwangerschaft zunehmen würde. Jedoch enthüllten ihre Ergebnisse einen überraschenden Trend: eine deutliche Abnahme der neuronalen Komplexität während der Reifung des Kindes, wobei männliche Säuglinge im Vergleich zu weiblichen eine schnellere Abnahme aufwiesen.
Personalisierte Medizin braucht geschlechtsspezifische Forschung
Personalisierte Medizin braucht geschlechtsspezifische Forschung, um den individuellen Unterschieden zwischen Männern und Frauen gerecht zu werden. Aktuell klafft eine beträchtliche Datenlücke sowohl in der Grundlagenforschung als auch in klinischen Studien. „Ideal wäre es, künftig Daten zu erheben, die eine noch präzisere und persönlichere Charakterisierung der Patient:innen ermöglichen. Ein vielversprechendes Vorbild hierfür findet sich bereits in der Krebsforschung, wo die akkurate Bestimmung von Subtypen gezielte Behandlungen mit neu entwickelten Wirkstoffen ermöglicht“, sagt Susanna Hofmann. Die Übertragung dieses Ansatzes auf weitere medizinische Bereiche könnte dazu beitragen, eine maßgeschneiderte Medizin zu gestalten, die nicht nur geschlechtsspezifische Unterschiede in Betracht zieht, sondern auch die individuellen Bedürfnisse einzelner Patient:innen berücksichtigt – und somit die Vision einer personalisierten Medizin wahr werden lässt.
Letzte Aktualisierung: März 2024.