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Matthias H. Tschöp
Matthias Tunger Photodesign

Interview Die pandemische Ausbreitung von Übergewicht und Diabetes stoppen!

Multi-Rezeptor-Medikamente: Wie bahnbrechende Entdeckungen zur Bekämpfung von Fettleibigkeit und Diabetes die medizinische Landschaft verändern

Prof. Matthias Tschöp erklärt, warum Multi-Rezeptor-Medikamente bahnbrechend bei der Behandlung von Fettleibigkeit (Adipositas) und der effektiven und sicheren Vorbeugung von Diabetes sind. Tschöp wurde für seine herausragenden Entdeckungen im Bereich der Diabetesforschung mehrfach ausgezeichnet, so erhielt er im Juni 2023 mit der Banting-Medaille die höchste Auszeichnung der American Diabetes Association (ADA), jüngst den Ernst-Schering-Preis und nun den international renommierten Heinrich-Wieland-Preis 2023.

Prof. Matthias Tschöp erklärt, warum Multi-Rezeptor-Medikamente bahnbrechend bei der Behandlung von Fettleibigkeit (Adipositas) und der effektiven und sicheren Vorbeugung von Diabetes sind – und auch, warum sie kein "Wundermittel“ auf dem Weg zum Traumkörper sind. Im Juni erhielt Tschöp die Banting-Medaille für seine herausragenden Entdeckungen auf diesem Gebiet.

Die "Abnehm-Spritze". Unter diesem Begriff versteht man therapeutische Wirkstoffe, die eine erhebliche Gewichtsreduktion ermöglichen – der aktuelle Abnehm-Champion ist Tirzepatid, er erreicht  sogar einen durchschnittlichen Gewichtsverlust von bis zu 22,5 Prozent! Diese Medikamente haben in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit in den Medien erhalten – auch weil Prominente wie Elon Musk sie nutzen, um ihren Körper schnell in Form zu bringen.

Herr Prof. Tschöp, Sie haben eine neue Klasse von Wirkstoffen namens Dual-Agonisten entdeckt, von denen Tirzepatid ein Vertreter ist. Was ist bemerkenswert an dieser Art von Wirkstoffen?

Die neu entdeckten Multi-Rezeptor-Medikamente sind hochwirksame und sichere Therapeutika gegen Fettleibigkeit. Sie bieten ganz neue Möglichkeiten metabolische Erkrankungen, wie Adipositas und Diabetes, zu behandeln. Die Dual- und Triple-Agonisten bieten direkte Vorteile für die Bekämpfung von Typ-2-Diabetes. Wir erwarten jedoch vor allem, dass durch die Kontrolle von Fettleibigkeit (Adipositas) in Zukunft Typ-2-Diabetes weitestgehend verhindert werden kann. Sowohl Fettleibigkeit, als auch Typ-2-Diabetes, sind globale Pandemien. Bisher gab es keine Therapie, die diese beiden Erkrankungen aufhalten oder umkehren konnte.

"Die neuen Multi-Rezeptor-Medikamente sind bahnbrechend im Kampf gegen Fettleibigkeit und Diabetes: Sie zeigen ähnliche Therapieerfolge wie eine Magenbypass-Operation – aber ohne die Risiken eines invasiven Eingriffs."
Prof. Matthias Tschöp, Neuroendokrinologe und CEO von Helmholtz Munich.

In einfacheren Worten: Wie wirkt Tirzepatid?

Tirzepatid ist eine Molekül, ähnlich einem Darmhormon, das so konstruiert wurde, dass es zwei verschiedene Rezeptoren aktiviert: GIP (glukoseabhängiges insulinotropes Peptid)-Rezeptoren und GLP-1 (glukagonähnliches Peptid-1)-Rezeptoren. Während das Verhältnis von GIP zu GLP-1 5:1 beträgt, haben beide Hormone enormes synergetisches Potenzial und wirken zusammen im Gehirn, um den Gewichtsverlust zu fördern. Konkret heißt das, es wird der Appetit verringert und  das Sättigungsgefühl überwiegt. Solche Dual-Agonisten verändern die Gehirnmechanismen, die den Stoffwechsel im Körper steuern, und verbessern die Insulinempfindlichkeit. Dies erzeugt Synergieeffekte, die das Potenzial zur Überwindung von Fettleibigkeit und Diabetes maximieren.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Darmhormone zu kombinieren und sie so zu modifizieren, dass sie im Gehirn zur Behandlung von Fettleibigkeit wirken?

 

Wir haben frühzeitig erkannt, dass der starke Drang zu essen und der körpereigene Mechanismus Kalorien zu speichern, nicht gestoppt werden kann, wenn auf nur einen Signalweg medikamentös eingewirkt wird. In unserem Körper steuern viele Signale die Kalorienaufnahme. Gleichzeitig haben wir entdeckt, dass Schlüsselhormone, die das Körpergewicht regulieren, wie das Sättigungshormon Leptin und das Hungerhormon Ghrelin, im Gehirn wirken. Hieraus zogen wir die Erkenntnis, dass wir eine Kombination von Signalen mit Zielrezeptoren im Gehirn benötigen, um Fettleibigkeit zu bekämpfen.

Eine weitere wichtige Erkenntnis war, dass eine Veränderung des Stoffwechselgleichgewichts im Gehirn und das Erreichen eines gesunden Körpergewichts mehr als einen Faktor, mehr als ein Signal erfordern. Unsere Vision war es, mehrere Rezeptoren mit einer einzelnen Verbindung anzusteuern, um technische Schwierigkeiten bei der Kombination mehrerer Verbindungen in "Cocktailspritzen" zu vermeiden. Nach jahrelangen Studien und vielen erfolglosen Versuchen haben wir schließlich drei Darmhormone gefunden, die die erforderlichen Anforderungen erfüllten: Glukagon, GLP-1 und GIP werden alle in Bezug auf die aufgenommene Nahrung ausgeschüttet und haben Rezeptoren an spezifischen Neuronen im menschlichen Gehirn, die für Hunger oder Sättigung verantwortlich sind. Darüber hinaus waren diese drei Hormone chemisch so aufgebaut, dass wir daraus ein einziges Molekül bauen konnten, das duale- und dreifache Aktivität besitzt.

Was hat Sie motiviert, eine neue Klasse von Wirkstoffen zur Bekämpfung von Fettleibigkeit zu erforschen?

Als junger Arzt in der Endokrinologie habe ich viele Patientinnen und Patienten mit Fettleibigkeit behandelt, und es war enorm frustrierend, dass es damals kein Medikament gab, das ihren Zustand verbessern konnte. Intensive Beratung und Betreuung haben bei einigen Patient:innen zu einem gesünderen Lebensstil geführt – aber die Fettleibigkeit kam fast immer zurück, oft stärker als zu Beginn. Die Magenbypass-Operation, die nicht rückgängig gemacht werden kann, stark invasiv und nicht ohne Komplikationsrisiken ist, blieb immer die einzige Option, auch für Kinder und Jugendliche. Unsere Vision war es daher, sichere Anti-Fettleibigkeitswirkstoffe mit einer Effizienz vergleichbar mit einer Magenbypass-Operation zu entdecken. Wir wussten, dass, wenn es uns gelingen würde, solche Wirkstoffe zu entwickeln, sie das Körpergewicht genauso kontrollieren könnten, wie es möglich ist, den Blutdruck mit Medikamenten zu kontrollieren. Und wir waren zuversichtlich, dass dies eine erfolgreiche Therapie gegen die globale Pandemie der Fettleibigkeit sein würde und die meisten neuen Fälle von Typ-2-Diabetes verhindern könnte! Wir waren überzeugt, dass wir einen neuen bahnbrechenden Wirkstoff oder ein präventives Werkzeug brauchen, statt bestehende Behandlungsoptionen zu verbessern. Schwere Fettleibigkeit ist ein entscheidender Risikofaktor, nicht nur für Typ-2-Diabetes, sondern auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Demenz, um nur einige Beispiele zu nennen. Natürlich hat Fettleibigkeit nicht nur einen großen Einfluss auf das Gesundheitssystem, sondern verursacht auch schwerwiegende psychologische Herausforderungen für Betroffene – einschließlich einer drastischen Beeinträchtigung der Lebensqualität und Stigmatisierung.

"Neue Multi-Rezeptor-Wirkstoffe, wie Tirzepatid, sind bahnbrechend, da sie erstmals eine Normalisierung des Körpergewichts bei Adipositas ermöglichen. Sie sind aber auch ein hilfreicher Startschuss, um einen gesünderen Lebensstil mit gesunder Ernährung, Bewegung, Stressreduktion und ausreichend Schlaf zu beginnen."
Prof. Matthias Tschöp

Sind die neuen Polyagonisten auch für gesunde Personen geeignet, um schnell abzunehmen?

Polyagonisten können ein Startschuss für eine bessere Gesundheit sein. Sie sind nützliche Medikamente mit sehr wenigen Nebenwirkungen. Sie helfen, das Körpergewicht auf ein gesundes Niveau zu reduzieren – und der Gewichtsverlust hält an, solange das Medikament eingenommen wird. Außerdem verbessern die Dual-Agonisten auch andere wichtige Faktoren des Stoffwechsels: Blutzucker, Insulinsekretion und Blutdruck werden auf gesunde Werte gebracht. Man muss aber wissen, dass die Patient:innen dauerhaft ihren Lebensstil anpassen müssen, indem sie gesünder essen und parallel dazu aktiv bleiben. Und: Sie wirken umso effektiver, je höher das Körpergewicht ist. Es wird schwierig sein, einige Missbräuche zu verhindern. Es hilft zumindest, dass diese Multi-Rezeptor-Therapeutika immer von einem Arzt verschrieben werden müssen. In den USA wurde Tirzepatid bisher nur für Diabetes zugelassen. Die Zulassung für Fettleibigkeit wird jedoch erwartet.

Was katalysiert solche bahnbrechenden Forschungsergebnisse?

Forschung ist immer eine Mischung aus Vision, Wissen, harter Arbeit und Glück. Eine inspirierende Forschungsumgebung, enge Zusammenarbeit mit Expert:innen  aus verschiedenen Fachbereichen und die Freiheit, den experimentellen Ergebnissen ohne Vorurteile oder Voreingenommenheit zu folgen, sind sehr wichtig.

Diese Voraussetzungen haben wir in den letzten zehn Jahren auch auf unserem Helmholtz Munich Campus geschaffen: Wir haben ein unterstützendes interdisziplinäres, aber auch ehrgeiziges Forschungsklima mit erstklassigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Mitarbeitenden sowie einer herausragenden High-Tech-Infrastruktur an der Schnittstelle von Wissenschaft, Biotech-Branche und pharmazeutischer Industrie.

"Unsere Forschenden bei Helmholtz Munich sind hoch motiviert, bahnbrechende Lösungen für die menschliche Gesundheit und eine gesündere Gesellschaft zu entwickeln.“
Prof. Matthias Tschöp

Sie wollen die pandemische Ausbreitung von Adipositas und Diabetes stoppen. Ist ihre Mission mit der Entdeckung der Polyagonisten erfüllt?

Der Erfolg der Multi-Rezeptor-Medikamente ist überzeugend – wir warten gespannt auf weitere klinische Daten zu den ersten Dreifachhormon-Medikamenten, einer anderen Klasse von Therapeutika, die wir 2015 entdeckt haben. Neben GLP-1 und GIP, die in Tirzepatid kombiniert sind, enthält dieser Dreifach-Agonist auch das Darmhormon Glucagon. Basierend auf unseren umfangreichen präklinischen Studien, aber auch laut fortgeschrittenen klinischen Studien werden diese Dreifach-Agonisten sogar die Dual-Agonisten übertreffen. Ein Gewichtsverlust von bis zu 30 Prozent bei Fettleibigkeit erscheint möglich.

Was sind Ihre nächsten Schritte?

Einerseits arbeiten wir hart daran, die molekularen Mechanismen hinter all diesen neuen Wirkstoffen genau zu verstehen. Zum Beispiel stellen wir uns die Frage: Welche genauen Neuronen werden aktiviert oder deaktiviert? Aber es gibt auch andere Rätsel, die wir lösen müssen – zum Beispiel, ob es eine Gruppe von moderat aktiven Wirkstoffen geben könnte, die dabei helfen könnte, ein gesundes Gewicht und einen gesunden Stoffwechsel nach Gewichtsverlust aufrechtzuerhalten. Das könnte es ermöglichen, die Behandlung mit den starken Multi-Rezeptor-Medikamenten irgendwann zu beenden, anstatt eine lebenslange Behandlung durchzuführen. Parallel dazu arbeiten wir an den nächsten Generationen von Stoffwechselmedikamenten, die wir auf die Bedürfnisse spezifischer Untergruppen von Patient:innen zuschneiden möchten. Diese könnten uns einer personalisierten metabolischen Medizin der Zukunft näherbringen.

"Wir wollen eine noch präzisere Medizin für metabolische Erkrankungen. Mit den Polyagonisten haben wir begonnen, die nächste Generation personalisierter Medikamente er entwickeln.“
Prof. Matthias Tschöp

Sie haben in diesem Jahr unter anderem die Banting-Medaille, die höchste Auszeichnung der American Diabetes Association (ADA) und den Ernst-Schering-Preis 2023 erhalten - nun auch den international renommierten Heinrich-Wieland-Preis 2023.

Was bedeuten Ihnen diese Auszeichnungen?

Nach drei Jahrzehnten harter Arbeit und zahlreichen Rückschlägen für Team, freue ich mich überaus über die inspirierende Anerkennung. Auch weil die Auszeichnungen die Bedeutung herausragender Grundlagenforschung sowie ihre Translation in medizinische Innovationen unterstreichen, Das ermutigt uns, an dieser wichtigen Arbeit weiterzumachen, um die Zukunft der Gesundheitsversorgung aktiv mitzugestalten und so die Lebensqualität von Menschen weltweit zu verbessern.

Pioneer Campus Podcast: “Adipositas ist eine Erkrankung des Gehirns.”

Ein Gespräch mit Prof. Matthias Tschöp

Prof. Mathias Tschöp ist Arzt, Wissenschaftler und Geschäftsführer von Helmholtz Munich. Dieser Podcast wurde produziert von Thiago Carvalho / Audio von Marco Antonio/366.

Erfahren Sie mehr über Prof. Matthias Tschöp und seine Forschung

Prof. Matthias H. Tschöp ist seit 2018 Geschäftsführer und Sprecher der Geschäftsführung von Helmholtz Munich, außerdem seit 2012 "Alexander von Humboldt"-Professor an der Technischen Universität München. Seine Vision ist es, die Region München als weltweit führende Drehscheibe für biomedizinische Forschung zu positionieren, um effizient neue Lösungen für die gesundheitlichen Herausforderungen unserer sich schnell verändernden Welt zu finden. Er verwirklicht dies, indem er die Exzellenz in der biomedizinischen Grundlagenforschung fördert und deren Umsetzung in personalisierte Prävention und neue Präzisionstherapien beschleunigt.

Letzte Aktualisierung: Januar 2023.