Die molekulare Grundlage von Diabetes verstehen: Einzelzell-Atlas nutzt maschinelles Lernen
Informatiker:innen und Diabetesforscher:innen von Helmholtz Munich haben gemeinsam neuartige Erkenntnisse über die grundlegenden Mechanismen von Typ-1- und Typ-2-Diabetes erlangt. Die Zusammenarbeit führte zur Erstellung des ersten Maus-Inselzell-Atlas (englisch: mouse islet atlas, MIA). Mit Hilfe von maschinellem Lernen wurden Einzelzell-Datensätze integriert, um die molekularen Veränderungen von Diabetes aufzudecken und die Unterschiede zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes zu enthüllen. Die Ergebnisse wurden nun in dem Fachjournal Nature Metabolism veröffentlicht.
Der Verlust oder eine Veränderung in der Funktion der insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse, den β-Zellen, mit einer fehlerhaften Regulation des Blutzuckers als Folge, verursacht Typ-1 (T1D) und Typ-2-Diabetes (T2D). Die β-Zellen und andere Zelltypen in den sogenannten Langerhans-Inseln der Bauchspeicheldrüse kommunizieren miteinander und regulieren gemeinsam durch die Ausschüttung von Hormonen den Blutzuckerspiegel. Die Messung des Insulinspiegels im Blut ist die am häufigsten angewendete Methode, um die Funktion der β-Zellen zu untersuchen. Allerdings reicht diese Methode nicht aus, um den präzisen Mechanismus aufzudecken, dem β-Zelltod während der Autoimmunreaktion bei T1D oder im Zusammenhang mit einer β-Zell-Insuffizienz nach erhöhten Blutzucker- und Lipidspiegeln bei T2D zugrunde liegt. Um den Mechanismus genauer zu verstehen, untersuchen Forschende weltweit die Genexpression der Bauchspeicheldrüsen durch die Analyse der RNA in einzelnen Zellen in Mausmodellen. Die daraus entstandenen Einzelzell-Genexpressions-Datensätze (scRNA-seq) enthalten hunderttausende von Zellen, wobei in jeder Zelle tausende von Genen gemessen werden. Bisher war es aufgrund der Vielzahl von Faktoren wie dem Krankheitsverlauf, den verschiedenen Arten von Inselzellen, den genetischen Unterschieden zwischen Mausstämmen und Diabetes-Modellen sowie den unterschiedlichen Labormethoden und der Datenverarbeitung schwierig, eine einheitliche molekulare Erklärung für die β-Zellinsuffizienz bei Diabetes zu ermitteln. Sodass es bisher die genauen Ursachen von T1D und T2D nicht vollständig verstanden werden konnten.
Ein Team aus der Forschungsgruppe von Prof. Fabian Theis zusammen mit einem Team um Prof. Heiko Lickert, beide von Helmholtz Munich, hat sich neueste Fortschritte im maschinellen Lernen, insbesondere im Bereich des Deep Representation Learning und der Datenintegration zu Nutzen gemacht, um den Maus-Inselzell-Atlas (MIA) zu entwickeln. Ein Atlas auf Ebene der Zellen ist eine umfassende Sammlung von Daten mit detaillierten Informationen über zelluläre Funktionen und wird von Forschenden als Ressource über Zellbiologie genutzt. Der MIA integriert neun scRNA-seq-Datensätze und über 300.000 Einzelzellen mit 1.000-8.000 Genen pro Zelle. MIA stellt die erste umfassende Zusammenstellung von Einzelzellendaten aus Mäusebauchspeicheldrüsen dar. Durch die Integration dieser Datensätze konnten die Wissenschaftler:innen bereits Veränderungen in der Genexpression von β-Zellen von einem gesunden zu einem erkrankten Zustand bei T1D und T2D oder während des Alterungsprozesses entschlüsseln. Dies ermöglicht schließlich die Identifizierung molekularer Zielstrukturen zur Prävention von β-Zellinsuffizienz. Zusätzlich trägt die Integration und der direkte Vergleich von Daten aus verschiedenen Datensätzen und Laboren dazu bei, in der Forschungsgemeinschaft einen Konsens zu schaffen.
Der Maus-Inselzell-Atlas zeigt Veränderungen in der β-Zellfunktion auf
Mit Hilfe des MIA konnten die Autor:innen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der molekularen Veränderungen bei T1D und T2D identifizieren. Es wurde gezeigt, dass β-Zellen bei gesunden Erwachsenen eine bemerkenswerte Vielfalt aufweisen. Diese Zellen zeigen variierte Ausprägungen von Zellstress, der durch die Insulinproduktion verursacht wird, sowie von Mustern, die mit dem Alterungsprozess zusammenhängen. Zudem trug MIA auch zur Klärung bei, welche Mausmodelle für die Erforschung von menschlichem T1D und T2D verwendet werden sollten. So werden experimentelle Studien in Zukunft leichter planbar sein. Das Streptozotocin-Modell, ein weit verbreitetes experimentelles Modell, bei dem die β-Zellen chemisch zerstört werden, wurde bisher sowohl für T1D als auch für T2D Forschung verwendet. Jedoch zeigen die neusten Erkenntnisse, dass das Modell eher T2D widerspiegelt. Des Weiteren wurde in allen Diabetesmodellen ein intermediärer Zustand der β-Zellen zwischen gesunden und diabetischen Mäusen beobachtet. Dieser Zustand sowie die molekularen Signalwege, die in diesen β-Zellen aktiv sind, könnten eine Rolle in der Entstehung oder Bekämpfung von Diabetes spielen und bieten potenzielle Zielmoleküle für zukünftige Behandlungsstrategien. Insgesamt ist die Studie ein herausragendes Beispiel, wie die Integration umfangreicher Datensätze und der resultierende Maus-Inselzell-Atlas (MIA) genutzt werden können, um eine Vielzahl von Einzelzell-Datensätzen aus Laboren auf der ganzen Welt zu bewerten. So entsteht nicht nur ein Konsens über die Entstehung von Diabetes, sondern es können auch neue Erkenntnisse gewonnen werden, die mit einzelnen Datensätzen allein nicht erreichbar wären.
Der Atlas ist eine wichtige Ressource für zukünftige Forschung
MIA stellt eine umfassende Ressource dar, die sowohl interaktive Exploration durch cellxgene und eine computergestützte Analyse ermöglicht. Zum Beispiel kann MIA verwendet werden, um herauszufinden, welche Zellen ein Gen von Interesse exprimieren und wie stark das Gen exprimiert wird. Neue Proben können auch im Hinblick auf die Bedingungen innerhalb von MIA interpretiert werden, indem sie auf den Atlas abgebildet werden. In Zukunft kann MIA weiter ausgebaut und aktualisiert werden, um kontinuierlich neu generierte Daten zu erfassen.
Originalpublikation
Hrovatin, K. et al. (2023): Delineating mouse β-cell identity during lifetime and in diabetes with a single cell atlas. Nature Metabolism.https://www.nature.com/articles/s42255-023-00876-x
Über die Wissenschaftler:innen
Karin Hrovatin, PhD-Studentin in der MUDS Graduate School bei Helmholtz Munich
Prof. Dr. Heiko Lickert, Direktor des Instituts für Diabetes and Regeneration Research (IDR) bei Helmholtz Munich und Professor für Beta Zell Biologie an der medizinischen Fakultät der Technischen Universität München (TUM)
Prof. Dr. Dr. Fabian Theis, Leiter des Computational Health Center (CHC) und Direktor des Instituts für Computational Biology (ICB) bei Helmholtz Munich und Direktor bei Helmholtz AI
Weitere Informationen
Der Maus-Inselzell-scRNA-seq-Atlas ist auf cellxgene zu finden